16. Dezember 2024

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# Europa & Internationales

Ökosoziale Marktwirtschaft: Modell für Europa, Vision für die Welt

Europa muss jetzt wirtschaftliche Freiheit und Leistungskraft stärker fördern.

Die viel zitierte „Rückkehr der Geopolitik“ mit verschärften internationalen Konflikten und unabsehbarem Eskalationspotenzial in den nächsten Jahren ist unbestritten eine große Herausforderung für Europa. Sie erfordert es auch, sich auf den Kern der europäischen Idee und des europäischen Lebensmodells zu besinnen. Im globalen Wettbewerb mit den USA und China gerät dieses Lebensmodell zweifellos unter Druck – vor allem dann, wenn wir es nicht schaffen, die Grundlagen für seine Stärken und Qualitäten in den Mittelpunkt zu stellen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Das europäische Modell kann definitiv nicht darin bestehen – wie sich manche das wünschen –, Europa in ein ökologisches Disneyland zu verwandeln, in dem die Subsistenzwirtschaft fröhliche Urstände feiert und Wachstum und Wohlstand schon lange weggezogen sind. Das europäische Modell kann und muss für einen ganz anderen Anspruch und eine ganz andere Vision stehen: Nämlich, wirtschaftliche Leistungskraft, soziale Sicherheit und ökologische Nachhaltigkeit gemeinsam zu verwirklichen. Und nicht das eine auf Kosten des anderen.

Vernünftiger Rahmen statt ideologischer Fesseln

Im globalen Wettbewerb der Modelle ist schon längst deutlich, dass es dem amerikanischen und dem chinesischen Modell nur unzureichend gelingt, alle drei Zielwerte gemeinsam zu verfolgen. Das US-Modell hat Schwächen bei der sozialen Sicherheit und der ökologischen Nachhaltigkeit, das chinesische – zudem nicht-demokratische – Modell bringt in allen drei Bereichen keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Europa hat somit auf der Systemebene tatsächlich die Chance, globales Vorbild zu sein, weil und wenn es seine Wirtschaftskraft ausbaut und damit die Grundlagen für soziale und ökologische Nachhaltigkeit schafft. Auf nichts anderes zielt das Wirtschafts- und Ordnungsmodell der Ökosozialen Marktwirtschaft ab, das der Wirtschaft keine ideologischen Fesseln anlegt, aber ihr einen vernünftigen und zukunftsorientierten Rahmen gibt.

Wichtige Werte vereinbaren

In der gemeinsamen Betrachtung und Verfolgung von großen gesellschaftlichen Zielen zeigt sich mehr und mehr auch der große Wert ökosozialen Denkens für die aktuelle Klimadebatte in Europa. Denn in dieser Debatte gibt es für manche Akteure nach wie vor nur ein großes Ziel – den Klimaschutz –, dem sich alle anderen gesellschaftlichen Anliegen unterordnen müssen. Ökologischer Autoritarismus wäre freilich in jeder Hinsicht der falsche Weg in die Zukunft. Das Modell der Ökosozialen Marktwirtschaft setzt die großen Zielwerte der gesellschaftlichen Entwicklung hin- gegen in einen vernünftigen Kausalzusammenhang: Wirtschaftliche Freiheit und Leistungskraft sind die Grundlagen für eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung. Hemmen wir die wirtschaftliche Entwicklung durch einseitige klimapolitische Maßnahmen, gefährdet das unser gesamtes Wohlstands- und Lebensmodell – und damit unsere Fähigkeiten, die notwendigen Investitionen in die Energiewende zu bewältigen. Deshalb ist und bleibt es wichtig, unsere Wirtschaftskraft nicht nur mit Blick auf soziale, sondern auch ökologische Nachhaltigkeit zu sichern.

Ziele statt Wege vorgeben

Das Ökosoziale Modell ist auch deshalb für Europa von großem Wert, weil es die Rolle von Politik und Staat klar definiert und limitiert: Ihre Aufgabe ist es, die großen gesellschaftlichen Ziele auf demokratischem Weg zu formulieren und umzusetzen. Die (technologischen) Wege zur Zielerreichung müssen aber der Wirtschaft überlassen bleiben. Andernfalls droht eine Planwirtschaft unter ökologischen Vorzeichen, in welcher der Staat auch das technologische Sagen hat. Die Instrumente der Marktwirtschaft bleiben auch beim Klimaschutz wichtig und wertvoll. Auch das stellt das Modell der Ökosozialen Marktwirtschaft klar.

Mehr wirtschaftliche Freiheit für Europa

Was heißt die Umsetzung der Prinzipien der Ökosozialen Marktwirtschaft für Europa? Welche Maßnahmen setzt etwa eine Politik der Europäischen Union, die den Zielen und Ansätzen des Ökosozialen Modells folgt?

Die Antwort darauf ist unter den gegebenen Umständen klar: Europa muss wirtschaftliche Freiheit und Leistungskraft stärker fördern. Die Fakten sprechen leider eine klare Sprache. Europa verliert an Wettbewerbsfähigkeit und an wirtschaftlicher Relevanz in der Welt. War Europa im Jahr 1980 noch für 25,86 % des kaufkraftbereinigten globalen BIP verantwortlich, sank der Anteil 2022 auf 14,87 %. China gewann im Gegenzug massiv an Bedeutung. Die Gefahr eines nachhaltigen Deindustrialisierungsprozesses in Europa ist real. Europa muss mehr für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum tun – und sich deutlich stärker auf diese großen Themen fokussieren. Mehr wirtschaftliche Freiheit muss auch durch den Abbau von Überregulierung gewährleistet werden. Nachfolgend drei konkrete Handlungsbeispiele dafür, was auf der europäischen Agenda stehen muss.

Binnenmarkt entfesseln:
Der Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Personen, Kapital und Daten leidet in Europa nach wie vor unter Einschränkungen. Dadurch entgehen der EU bis zu 8,6 % an zusätzlichem BIP. Das können und dürfen wir uns nicht länger leisten. Bis 2029 bietet der Binnenmarkt ein Wachstumspotenzial von 713 Milliarden Euro. Die effektive Um- und Durchsetzung bestehender Binnenmarktregeln muss daher Vorrang vor neuen Regeln haben. Auch für den Dienstleistungsbinnen- markt müssen Barrieren abgeschafft werden. Protektionismus und „Gold Plating“ kosten uns alle in Europa Wachstum.

Wettbewerbsfähigkeit garantieren:
Das Problem der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit Europas ist vielfach hausgemacht – und vergleichsweise einfach zu beseitigen. Dass die Europäische Kommission einen Wettbewerbsfähigkeits-Check für alle Gesetzesvorhaben plant, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wichtig ist, dass es künftig einen umfassenden und kritischen Blick darauf gibt, welchen Einfluss geplante Rechtsakte auf die Wettbewerbsfähigkeit haben können. Ganz besonders muss das mit Blick auf die Klein- und Mittelbetriebe erfolgen, denn sie sind das Rückgrat auch unserer Ökosozialen Marktwirtschaft. Je sicherer die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe und Standorte in Europa gewährleistet ist, desto besser ist es auf nationalstaatlicher Ebene möglich, bestehende Sozialsysteme fortzuschreiben bzw. weiterzuentwickeln.

Kapitalmarkt umsetzen:
Ein ökosoziales Europa adressiert auch ökologische und andere Transformations-Herausforderungen mit den richtigen Instrumenten. Es steht außer Frage, dass ökologische und digitale Transformation große Finanzierungsherausforderungen nach sich ziehen. Die Fremdkapital-Finanzierung muss durch einen europäischen Kapitalmarkt erweitert und bestmöglich unterstützt werden. Die Kapitalmarktunion ist die Grundlage für eine bessere Eigenkapitalversorgung von KMU, für nachhaltige Investitionen, grenzüberschreitende Investitionen und auch für die Stärkung privater Anleger.

Global denken – vernünftig und realistisch handeln

Ein wirtschaftlich starkes Europa, das soziale Stabilität und Investitionen in Nachhaltigkeit gewährleistet, ist auch ein gewichtigerer Akteur, wenn es – ganz im Sinn der Ökosozialen Marktwirtschaft – darum geht, global einen CO2-Preis umzusetzen. Er wäre auf Dauer das wirksamste Instrument, um den Klimaschutz global voranzutreiben und Wettbewerbsnachteile für Europa zu verhindern.

Ganz entscheidend für ökosoziales Denken und Handeln in Europa sind natürlich auch wirtschaftliche Vernunft und politischer Realismus. Auf Zielvorgaben der EU-Kommission, bis 2040 eine Reduktion der Klimagase um 90 % zu erreichen, trifft das nicht zu. Bereits heute ist klar, dass ein Großteil der EU-Mitgliedstaaten die Zielvorgaben bis 2030 verfehlen wird. Noch höhere und unrealistische Zielsetzungen sind der falsche Weg, der nur überzogene Erwartungen und Frustrationen fördert. Was wir brauchen, ist eine bessere Balance zwischen abitionierten Zielen und machbaren Lösungen – und zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zielwerten, wie sie das Ordnungsmodell der Ökosozialen Marktwirtschaft fördert.

Werte richtig umsetzen

Gerade wir in Österreich haben an dieser Balance größtes Interesse. Schon heute zeigen unsere Unternehmen auf internationalen Märkten, wie sich Wachstum und Klimaschutz mit zukunftsweisenden Umwelttechnologien verbinden lassen. Die Wirtschaft ist beim Weg zu wirtschaftlicher Stärke, sozialer Sta- bilität und Klimaneutralität nicht das Problem, sondern die Lösung. Sie ist der Motor unseres europäischen Modells, das wir im internationalen Wettbewerb besser und ambitionierter denn je absichern und weiterentwickeln müssen.

Umso entscheidender ist jetzt in ganz Europa eine politische Gestaltung, die sich an klaren Werten und ihrer gemeinsamen Umsetzung orientiert. Wir brauchen mehr Freiheit und Leistungskraft für unsere Wirtschaft, um breiten Wohlstand und soziale Sicherheit sowie ökologische Transformation möglich machen zu können. Nur so wird das europäische Modell im globalen Wettbewerb der Ordnungsmodelle zwischen dem amerikanischen und dem chinesischen Modell ein attraktives Angebot an die Welt sein können, unterschiedliche gesellschaftliche Ziele gemeinsam und weitgehend konfliktfrei zu verwirklichen. Genau das ist in einer Zeit zunehmender internationaler Konflikte und Spannungen wichtiger denn je. Und das ist die große Vision für Europa und die Welt, die wir gemeinsam verfolgen müssen.

 

Dieser Beitrag stammt aus unserer Publikation "Was Europa besser macht."

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Was Europa besser macht

Der Autor

Harald Mahrer, geboren 1973, ist seit Dezember 2017 Präsident des österreichischen Wirtschaftsbundes sowie seit Mai 2018 der Wirtschaftskammer Österreich und wurde im September 2018 als Präsident der Österreichischen Nationalbank bestellt. Bis Dezember 2017 war er Bundesminister für Wissenschaft, For- schung und Wirtschaft. Von 2011 bis 2015 war er Präsident der Julius Raab Stiftung und beschäftigte sich intensiv mit unter- nehmersicher Verantwortung und der Freiheit des Bürgers sowie mit der Etablierung einer neuen Gründerzeit in Österreich.