Die EU braucht eine wirtschaftspolitische Kurs- korrektur, um im internationalen Wettbewerb neue Stärke zu finden.
Europas Position als wirtschaftliches Schwergewicht droht zu bröckeln. Noch haben die 27 EU-Länder gemeinsam den drittgrößten Anteil an der Weltwirtschaft gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Mit einem BIP von 25,5 Billionen Dollar liegen die USA mit Abstand auf dem ersten Platz, China folgt mit 17,9 Billionen Dollar und die EU liegt ohne Großbritannien bei 15,8 Billionen Dollar. Das klingt zunächst nicht alarmierend, ein Blick in die Vergangenheit zeigt aber, dass es nicht lange her ist, als Europa noch eine Führungsrolle in der Weltwirtschaft einnahm. Kurz bevor die Lehman-Pleite 2008 eine globale Finanzkrise auslöste, waren die Kräfteverhältnisse ganz anders: Da hatte die EU – damals noch mit Großbritannien – mit einem BIP von 16,3 Billionen Dollar die Nase vorne, gefolgt von den USA mit 14,8 Billionen Dollar. Es folgten zahlreiche Krisen, der Brexit und eine nicht immer optimale Krisenbewältigung.
Der Wind auf den Weltmärkten ist für die exportstarke europäische Industrie rauer geworden. Hohe Energiepreise, Fachkräftemangel, hohe Arbeitskosten und ein stetig wachsender Berg neuer Regularien und Berichtspflichten hinterlassen tiefe Wunden in der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Um in diesem Umfeld Wohlstand, soziale Sicherheit und Lebensqua- lität sichern zu können, braucht es eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur mit konsequentem Fokus auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Aus Sicht der Industrie müssen dafür drei Hebel in Gang gesetzt werden:
- ein sofortiger Stopp und Abbau überbordender bürokratischer Belastungen
- die Schaffung eines investitions- und innovationsfreundlichen Umfelds mit Stärkung der Bereiche Bildung, Forschung und Entwicklung und nicht zuletzt
- der Ausbau von Partnerschaften mit aufstrebenden Weltregionen.
Regulatorische Belastung abbauen
In der Legislaturperiode 2019–2023 hat die EU-Kommission Unternehmen insgesamt 850 neue Verpflichtungen auferlegt, was mehr als 5.000 Seiten an Rechtsvorschriften entspricht. Unternehmerisches Risiko und Investitionen sind nirgendwo anders so vielen Auflagen und Beschränkungen unterworfen wie in Europa. Mehr als die Hälfte der Vorschriften, die auch österreichische Unternehmen einhalten müssen, kommen aus Brüssel – hier gibt es dringenden Handlungsbedarf, denn das beeinträchtigt zunehmend die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Nach der „regulatorischen Inflation“ der derzeitigen Kommission müssen der Abbau regulatorischer Belastungen und die Verbesserung von Investitionsbedingungen ins Zentrum der EU-Politik gerückt werden. Die europäische Biotech-Industrie hat großes Potenzial und viele (kleine) innovative Unternehmen. Aber europäische und nationale Regulierungen legen diesen Unternehmen so viele Stolpersteine in den Weg, dass auch diese Industrie droht, in den nächsten Jahren – sollte nicht gegengesteuert werden – zunehmend außerhalb Europas zu investieren. Die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 und die folgende Konstituierung einer neuen Kommission müssen daher eine Neuorientierung bringen. Unternehmen brauchen alle Kraft, um die Chancen der Doppeltransformation mit Digitalisierung und Energiewende voll nutzen zu können und so eine ökonomisch-ökologische Win-win-Situation zu erzielen.
In Innovation investieren – Europa braucht mehr Risikokapital
Die EU und ihre Länder müssen deutlich mehr in Bildung, Forschung und Entwicklung investieren, um bei Innovationen nicht den Anschluss an die USA und China zu verlieren. Dafür braucht es europäische Forschungs- und Technologieprogramme wie „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI), eine kraftvolle Europäische Risikokapitallandschaft und die Stärkung strategisch wichtiger Bereiche wie einer eigenständigen europäischen Halbleiterindustrie und die Förderung europäischer Forschung und Entwicklung von Künstlicher Intelligenz. Universitäten und Forschungsinstitute in der EU müssen wieder zu den besten der Welt zählen und der Brückenschlag zwischen Forschung und Anwendung in der Wirtschaft noch besser gelingen.
Partnerschaften stärken
Von besonders großer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Union sind aber ihre Beziehungen zu anderen Wirtschaftsräumen. Es war immer die Öffnung zu anderen Weltregionen und die Beseitigung von Handelsbarrieren, die in Europa starken wirtschaftlichen Aufschwung gebracht haben. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen in der europäischen Nachbarschaft sollte der Fokus jetzt umso mehr auf der Stärkung der Beziehung zu dynamischen Wirtschaftsräumen liegen. Das aktuell abgeschlossene Abkommen mit Neuseeland ist ein positives Signal. Ein weiterer wichtiger Schritt ist nun, die lange verhandelte Partnerschaft mit den südamerikanischen Mercosur-Ländern unter Dach und Fach zu bringen. Dort liegen geostrategische Chancen für beide Seiten.
Die EU muss ihre ambitionierte Handelspolitik fortsetzen und bis 2025 möglichst alle laufenden Verhandlungen abschließen. Abkommen mit aufstrebenden Weltregionen müssen zudem breiter gedacht werden als nur im Sinne bilateralen Handels. Sie sind auch ein wesentlicher Faktor, wenn es darum geht, Lieferanten in strategisch wichtigen Bereichen zu diversifizieren. Es ist eine geologische Realität, dass Europa bestimmte Rohstof- fe importieren muss – und dafür im Umkehrschluss bestimmte Industriegüter exportiert. Welche Folgen einseitige Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten haben können, musste die EU anhand der Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine schmerzhaft lernen. Partnerschaften mit befreundeten, rohstoffreichen Weltregionen können helfen, solche Fehler in anderen Bereichen nicht zu wiederholen – etwa wenn es um seltene Erden geht, die für die grüne Transformation benötigt werden. China kontrolliert fast die gesamte Palette der für die Umsetzung des Green Deals notwendigen Rohstoffe.
Ein neuer wirtschaftspolitischer Kurs der EU muss internationalen Wettbewerb und Innovationsfähigkeit als zentrale Elemente haben. Je mehr die USA und China faire Wettbewerbsprinzipien in Frage stellen, desto wichtiger wird die Zusammenarbeit und Offenheit Europas gegenüber anderen Ländern und Weltregionen. Mit einem Fokus auf Forschung, Innovation gepaart mit einem Regulierungsstopp wird es der EU gelingen, auf den Weltmärkten zu neuer Stärke zu finden.
Dieser Beitrag stammt aus unserer Publikation "Was Europa besser macht."
Der Autor
Christoph Neumayer wurde 1966 in Wien geboren. Er studierte Geschichte, Publizistik und Rechtswissenschaften an der Uni- versität Wien und schloss 1996 das Studium in Geschichte und Kommunikationswissenschaften mit Auszeichnung ab. Nach be- ruflichen Stationen u.a. beim ORF als Redakteur und Chef vom Dienst sowie als Bundesgeschäftsführer der Jungen Industrie, leitete er zehn Jahre lang den IV-Bereich Marketing & Kommu- nikation im Haus der Industrie. Seit April 2011 ist Christoph Neumayer Generalsekretär der Industriellenvereinigung.